Information Warfare: russian fakes for May 19th, 2022

Kyrylo Budanow, Chef des ukrainischen Militärnachrichtendienstes
Foto: Emile Ducke / DER SPIEGEL

Warum der russische Angriff auf Kiew vorerst gescheitert ist und welche Waffen die Ukraine sich von Deutschland wünscht – ein Gespräch mit dem Chef des ukrainischen Militärnachrichtendienstes, Generalmajor Kyrylo Budanow.

 Über dem Schreibtisch von Generalmajor Kyrylo Budanow in Kiew hängt ein merkwürdiges Gemälde: Es zeigt eine Eule, die in ihren Klauen eine Fledermaus gepackt hat. Die Eule ist das Emblem des Militärnachrichtendienstes GUR, den Budanow seit bald zwei Jahren leitet. Die Fledermaus ist das Emblem des russischen Militärnachrichtendienstes GRU, in dem der ukrainische GUR seinen Hauptfeind sieht.

Im Interview mit dem SPIEGEL erzählt Budanow über den Krieg mit Russland und die Frage, welche Strategie und Taktik Wladimir Putin dabei verfolgt.

SPIEGEL: Herr General, Russland hat soeben das Flaggschiff seiner Schwarzmeerflotte verloren. Es gibt unterschiedliche Angaben, was der Grund ist – die Russen selbst sprechen von einem Brand an Bord. Was ist passiert?

Budanow: Das Schiff wurde von zwei ukrainischen Anti-Schiff-Raketen des Typs »Neptun« getroffen.

SPIEGEL: Und gegen solche Angriffe hatte die »Moskwa« kein Abwehrsystem?

Budanow: Jedenfalls hat es nicht funktioniert, wie Sie sehen. Das widerlegt einmal mehr den Mythos von der mächtigen russischen Armee.

Kyrylo Budanow ist seit August 2020 Chef des ukrainischen Militärnachrichtendienstes GUR. Ernannt wurde er von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Im April 2022 wurde er zum Generalmajor befördert. Die Karriere des Mittdreißigers und gebürtigen Kiewers ist nur lückenhaft bekannt. Budanow diente in den Spezialkräften des GUR, kämpfte im Donbass und wurde mehrfach verwundet, einmal davon schwer. Im August 2016 war er an einer ukrainischen Sabotageaktion auf der russisch besetzten Krim beteiligt. 2019 entkam er einem Bombenanschlag.

SPIEGEL: Der Krieg dauert jetzt schon bald zwei Monate. Was sind die strategischen Ziele, die Russland verfolgt, und wie haben sie sich verändert?

Budanow: Das Ziel der militärischen Aggression ist dasselbe geblieben: Dies ist eine Operation, um die Staatlichkeit der Ukraine zu vernichten. Die Ukraine soll aufhören, als Staat zu existieren. Das ist das wesentliche Ziel, und Putin hat seine Pläne nicht aufgegeben. Auf welche Weise sie dieses Ziel erreicht hätten, das hat Russland nie bis zu Ende ausgearbeitet, auch das ist typisch für ihre Taktik. Aber sie wollten erstens hier in Kiew eine von den Russen kontrollierte Regierung installieren und zweitens die Ukraine für immer in die russische Sphäre zurückholen. Das ist nicht geschehen und kann nicht geschehen, schon gar nicht nach den Gräueltaten und Kriegsverbrechen, deren Zeuge die ganze Welt geworden ist.

Feuerwehrleute in Charkiw beim Versuch, das Feuer nach einem russischen Raketenangriff zu löschen Foto: Felipe Dana / AP

SPIEGEL: Immerhin hat sich das Vorgehen geändert. Ende März erklärte der russische Generalstabsoffizier Sergej Rudskoj, man werde die Angriffe jetzt auf den Donbass konzentrieren. Um den sei es eigentlich von Anfang an gegangen.

Budanow: Was soll man zu diesem Unsinn sagen? Alle erinnern sich, was Putin und sogar Rudskoj selbst in den ersten Tagen des Krieges gesagt haben. Und dann leiden sie plötzlich an Gedächtnisschwund und behaupten, es sei von Anfang an bloß um den Donbass gegangen? Was haben sie denn dann in den anderen Städten gemacht?

Sie haben sich nicht einfach so zurückgezogen – wir haben sie aus der Region Kiew vertrieben.

SPIEGEL: Der Krieg begann mit einem gescheiterten Angriff auf Kiew. Warum hat Russland entschieden, seine Truppen ganz aus der Kiewer Region abzuziehen?

Budanow: Sie haben sich nicht einfach so zurückgezogen – wir haben sie aus der Region Kiew vertrieben. Es begann damit, dass wir die Stadt Irpin zurückeroberten. Damit drohten ihre Kräfte im Kiewer Gebiet in zwei Teile zerschnitten zu werden. Die Russen haben schnell verstanden, dass es nur noch eine Frage von Tagen ist, bis sie in dieselbe Lage kommen, die sie selbst gern dem Gegner zufügen – eine Einkesselung und Aufteilung ihrer Kräfte. Deshalb entschieden sie sich für den Rückzug.

SPIEGEL: Hat Sie der Misserfolg des ursprünglichen Angriffsplans gegen Kiew verwundert?

Budanow: Überhaupt nicht. Was mich wundert, ist etwas anderes: wie inkompetent und fahrlässig die russischen Befehlshaber an die Durchführung einer so großen Operation herangegangen sind. Wenn sie wirklich glaubten, dass sie in drei Tagen damit fertig sind – und nach unseren Erkenntnissen waren sie felsenfest davon überzeugt – dann muss die russische Führung sich fragen, wie kompetent ihre Generäle sind. Die haben den Wunsch für die Wirklichkeit gehalten.

SPIEGEL: Die russische Armee hat hohe Verluste erlitten, nach Angaben des ukrainischen Generalstabs sind rund 20.000 Soldaten gefallen. Aber auch einige hohe Generäle sind getötet worden. Woran liegt das? Kämpfen russische Generäle an vorderster Front?

Budanow: Sie sind nicht der Erste, den das interessiert. Wir haben uns diese Frage selbst gestellt. Und leider haben wir nur eine Antwort gefunden: das extrem niedrige professionelle Niveau der Generäle. Ein Grund dafür ist die Vetternwirtschaft in der russische Armee, das sind Schönwetter-Generäle, Verwandte irgendwelcher Beamten, die ihren Aufgaben nicht gewachsen und nicht auf sie vorbereitet sind. Nehmen Sie allein den Fall Tschernobajewka! Das ist ein Denkmal des Idiotismus.

Er geht eher nach Lehrbuch vor, besonnener, professioneller als sein Vorgänger. Das muss man ihm zugestehen. Aber verlieren wird er so oder so.

Budanow über den russischen Kommandeur Alexander Dwornikow

SPIEGEL: Sie meinen den Flugplatz bei Cherson, auf dem die russische Armee mehrfach wertvolles militärisches Gerät positioniert hat, obwohl es immer wieder von der ukrainischen Armee zerstört wurde.

Budanow: Fünfzehnmal! Und einige Generäle hat es dort auch erwischt.

SPIEGEL: Wer kommandiert die ganze Operation auf russischer Seite? Es hieß, die Führung sei ausgetauscht worden, das Kommando habe jetzt der Chef des Südlichen Militärbezirks von Russland, General Alexander Dwornikow.

Budanow: Das ist so. Dwornikow hat große Erfahrung in Syrien gesammelt, beim Durchführen nicht ganz sauberer Operationen…

SPIEGEL: … Sie meinen das Bombardieren ziviler Ziele?

Budanow: Genau. Er geht eher nach Lehrbuch vor, besonnener, professioneller als sein Vorgänger. Das muss man ihm zugestehen. Aber verlieren wird er so oder so.

SPIEGEL: Die Stadt Butscha bei Kiew wurde zum Inbegriff der Verbrechen, die unter russischer Besatzung geschahen, dort wurden Zivilisten exekutiert, es kam zu Vergewaltigungen. Welche russischen Einheiten waren an diesen Verbrechen beteiligt? Uns berichteten Einwohner etwa von burjatischen Truppen aus Sibirien.

Budanow: Die größte Zahl an Verbrechen wurde fraglos von Einheiten der 64 Motorschützen-Brigade begangen. Der größte Teil dieser Brigade besteht aus nichtrussischen Nationalitäten. Allerdings waren die Befehlshaber ethnische Russen, und die haben auch an Verbrechen teilgenommen. Sogar ein stellvertretender Kommandeur der Brigade hat mitgemacht.

SPIEGEL: Wie erklären Sie sich das besonders weitverbreitete Plündern? Das sind ja Verstöße gegen die militärische Disziplin. Eigentlich mag es keine moderne Armee, wenn ihre Soldaten plündern.

Budanow: Die russische Armee ist da anders. Vergleichen Sie das mit dem Konflikt in Tschetschenien oder in Syrien, da wurde auch geplündert.

SPIEGEL: Es gibt schwere Vorwürfe auch gegen die ukrainische Seite. Videoaufnahmen zufolge wurden russische Kriegsgefangene brutal misshandelt oder getötet.

Budanow: Schauen Sie sich an, wie die Gefangenen aussehen, die von den Seiten ausgetauscht werden. Mein subjektiver Eindruck ist: Die Gefangenen, die die Ukraine übergibt, sind in gutem physischem Zustand. Die, die wir erhalten, nicht. Sie erhalten nicht die notwendige medizinische Versorgung. Vor Kurzem haben wir zwei ukrainische Piloten aus der Gefangenschaft geholt, die mussten wir im Sanitätswagen transportieren.

SPIEGEL: In Mariupol wie in der Kiewer Region wurden offenbar Truppen aus Tschetschenien eingesetzt. Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow hat sich mit Drohungen gegen die Ukraine hervorgetan. Haben diese Truppen eine militärische Bedeutung oder dienen sie der Einschüchterung?

Budanow: Die haben eine rein symbolische Bedeutung. Die Tschetschenen haben an keiner einzigen größeren Kampfhandlung teilgenommen, die waren immer hinter der Front, um zu plündern, zu vergewaltigen oder zu töten. Die Russen haben selbst Angst vor den Tschetschenen, die schüchtert so etwas ein. Bei uns ist das anders, hier sieht man in ihnen einfach Verbrecher.

Wir brauchen Artilleriesysteme – darin ist die deutsche Armee besonders stark. Und leider brauchen wir Panzer, weil wir sehr große Verluste an gepanzerten Fahrzeugen hatten.

SPIEGEL: Gerüchten zufolge sollen auch Belarussen in der russischen Invasionsarmee sein – wenn nicht als Soldaten, so als Polizisten. Wissen Sie etwas darüber?

Budanow: Wir haben keine Belege dafür gefunden. Möglicherweise nehmen Freiwillige teil, aber wir haben keine Dokumente oder Hinweise, dass jemand hierher kommandiert wurde.

SPIEGEL: Aber die Sorge im ukrainischen Generalstab, dass auch Alexander Lukaschenko Truppen schicken könnte, scheint groß gewesen zu sein. Erst Ende März hat Ihr Nachrichtendienst davor gewarnt und die persönlichen Daten einer belarussischen Brigade veröffentlicht.

Budanow: Es ist kein Geheimnis, dass Putin die ganze Zeit von Lukaschenko einen Kriegseintritt fordert. Aber der belarussische Herrscher ist reif und klug genug, um sich da irgendwie herauszureden, das muss man ihm lassen. Auf dem Territorium von Belarus ist derzeit alles ruhig, da passiert nichts. Im Übrigen gilt: Gemessen an der Größe der Invasionsarmee spielt Belarus zahlenmäßig ohnehin keine große Rolle.

Ein Mann in Butscha betrauert seine 86-jährige Mutter, die bei den russischen Angriffen getötet wurde Foto: Rodrigo Abd / AP

SPIEGEL: Den russischen Angriff von Norden auf Kiew konnten Sie zurückschlagen. Wo erwarten Sie jetzt den Hauptangriff? Werden sich die Kriegshandlungen jetzt in den Donbass verlagern?

Budanow: Die Frage ist falsch formuliert. Die wichtigsten Kämpfe finden derzeit zwischen Charkow und Mykolajiw statt, hauptsächlich im Donbass. Wir erwarten nichts, das findet jetzt schon statt.

SPIEGEL: Wollen die Russen die besonders kampferprobten ukrainischen Truppen im Donbass abschneiden und einkesseln?

Budanow: Das versuchen sie, aber bisher sind sie völlig stecken geblieben. Ein gutes Beispiel ist der Ort Rubischne – da haben sie schon Kräfte für einen Durchbruch konzentriert, aber jetzt stecken sie fest und kommen nicht voran. Der halbe Ort gehört ihnen, die andere Hälfte uns.

SPIEGEL: Ihre Regierung wünscht dringend Waffen aus dem Westen, die deutsche Regierung reagiert zögerlich. Welche Waffen aus Deutschland brauchen sie besonders dringend?

Budanow: Ich sage nichts Neues, wir haben das offiziell formuliert. Wir brauchen Artilleriesysteme – darin ist die deutsche Armee besonders stark. Und leider brauchen wir Panzer, weil wir sehr große Verluste an gepanzerten Fahrzeugen hatten. Der Rest ist Standardgerät – Flugabwehrsysteme, Radioelektronische Aufklärung. Wir brauchen schwere Waffen, um die besetzten Gebiete zu befreien – alles, was auf dieser Karte hier rot gefärbt ist (er zeigt auf eine Karte vor sich auf dem Tisch).

Das lernen wir schnell. Mit Verlaub, das ist keine höhere Mathematik.

Budanow über eine mögliche Ausbildung ukrainischer Soldaten am deutschen Leopard-Panzer

SPIEGEL: Heißt das: Sie wollen diese Waffen auch, um die Krim zurückzuholen?

Budanow: Natürlich.

SPIEGEL: Im Gespräch sind Lieferungen von Schützenpanzern des Typs »Marder« und Panzer vom Typ »Leopard 1«.

Budanow: Meine persönliche Meinung ist: Vom Marder wurde zu wenig produziert, um uns zu helfen. Fünf oder zehn Stück helfen uns nicht. Bei den anderen Panzern ist es anders, da sehe ich sehr viel Potenzial.

SPIEGEL: Ihre Truppen müssten erst einmal am Leopard ausgebildet werden.

Budanow: Das lernen wir schnell. Mit Verlaub, das ist keine höhere Mathematik.

SPIEGEL: Die ukrainische Armee hat offenbar Operationen tief in feindlichem Gebiet durchgeführt, unter anderem Anfang April auf ein Treibstofflager in der russischen Stadt Belgorod…

Budanow: Das kann ich nicht kommentieren.

SPIEGEL: Der Sprecher des russischen Außenministeriums hat angekündigt, Russland werde »Entscheidungszentren« in Kiew angreifen, sollten ukrainische Attacken oder Sabotageakte auf russischem Gebiet nicht aufhören.

Budanow: Was soll ich dazu sagen? Haben die Russen Kiew etwa noch nicht beschossen? Natürlich mochten die Russen sich nicht vorstellen, dass der Krieg auch ihr Territorium berühren könnte. Ich verstehe, dass es ihnen schwerfällt, einzugestehen, dass zum ersten Mal seit 1943 wieder Angriffe auf russisches Territorium stattfinden. Aber daran müssen sie sich gewöhnen.

SPIEGEL: Sie selbst haben allerdings Russland unterstellt, solche Angriffe oder Sabotageakte selbst zu inszenieren.

Budanow: Ich habe gesagt, dass wir Hinweise auf solche Pläne haben. Üblicherweise ist das Ziel solcher Inszenierungen, die eigene Aggression zu rechtfertigen. Diesmal ist das Ziel ein anderes: Es geht erstens darum, die eigene Gesellschaft zu konsolidieren, die sich massenhaft weigert, zu kämpfen. Ihr soll gezeigt werden, dass die Ukraine ein terroristischer Staat sei, eine Bedrohung, die man stoppen muss. Und zweitens, um die Aufmerksamkeit der eigenen Öffentlichkeit von Butscha und anderen Fällen abzulenken, wo es zu Vergewaltigungen und Tötungen von Kindern kam. Wenn also in den nächsten Tagen Bahnhöfe, Kraftwerke oder Treibstofftanks explodieren und jedes Mal die Ukraine beschuldigt wird, dann wird mich das nicht groß wundern.

SPIEGEL: In der Hafenstadt Mariupol halten sich ukrainische Truppen gegen eine erdrückende Übermacht. Wie lange können sie durchhalten? Oder gibt es eine Möglichkeit, dass sie den Kessel verlassen können?

Budanow: Mariupol ist ein Denkmal des Heldentums unseres Volkes und unserer Soldaten, ein Beispiel zur Nachahmung. Über den Fall der Stadt wird schon seit Langem geredet. Die Russen haben erst behauptet, sie hätten die Stadt schon eingenommen, dann sagten sie, die Einnahme stehe kurz bevor, morgen sei es so weit. Aber wie Sie sehen, scheitern sie schon seit mehr als einem Monat. Mariupol hält und wird sich halten. Und irgendwann werden wir die Blockade durchbrechen können.

SPIEGEL: Wie lange wird dieser Krieg noch gehen? Russlands Ressourcen sind groß.

Budanow: Es wäre dumm, das abzustreiten. Aber je mehr die restliche Welt es schafft, in dieser Frage gemeinsam zu handeln, desto schneller werden sich diese Ressourcen erschöpfen. Außerdem kann ich nur sagen: Die Ukraine existierte vor diesem Angriff, es gibt sie jetzt, es wird sie künftig geben. Dagegen kann Putin nichts unternehmen.

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